Nur den Schalter umlegen

NEW BUSINESS Innovations - NR. 07/08, JULI/AUGUST 2023
V.l.: Christina Wilfinger, Geschäftsführerin bei SAP Österreich, und André Kombal, Chief Operating Officer Artificial Intelligence von SAP SE © RNF

Wo SAP draufsteht, steckt künstliche Intelligenz drin – so könnte man sagen. Der europäische Softwarekonzern arbeitet hart daran ...

... seine modernen KI-Services und -Werkzeuge so einfach konsumierbar wie möglich zu machen.

Themen wie künstliche Intelligenz (KI), oder im Englischen Artificial Intelligence (AI), und Machine Learning sind eigentlich nicht neu. Aber gerade in den letzten Monaten gab es einen massiven Hype, vor allem ausgelöst durch Chatbots, die sehr gut mit Eingaben – sogenannten Prompts – in natürlicher menschlicher Sprache umgehen können. Das hat bei vielen zu einem Aha-Erlebnis geführt. Im Gespräch mit NEW BUSINESS ordnen Christina Wilfinger, Geschäftsführerin bei SAP Österreich, und André Kombal, Chief Operating Officer Artificial Intelligence von SAP SE, unter anderem die aktuellen Entwicklungen ein, setzen sie mit anderen Trends in Relation und schildern SAPs Sicht der Dinge.

Durch neue Anwendungen erfährt das Thema KI derzeit einen massiven Hype. Andererseits sind Machine Learning und KI im Business-Kontext keine neue Sache. Viele Unternehmen, auch SAP, setzen sich schon sehr lange ­damit auseinander. Ist der aktuelle Hype Ihrer ­Meinung nach gerechtfertigt?
André Kombal: Es ist nicht so, dass es KI nicht vorher schon gegeben hätte, bevor ChatGPT Ende letzten Jahres populär geworden ist. Ich behaupte aber, dass es kein „Sommerlüftchen“ ist, weil der Umfang der Einsatzmöglichkeiten jetzt erst seine komplette Blüte entwickelt. Wenn man über KI spricht, ist aber ganz klar, dass es sich um ein Werkzeug handelt. Man sollte nicht zu viel in KI hineininterpretieren, etwa, dass uns die KI aus den Händen gleiten könnte. Am Ende des Tages sind es immer noch Menschen, die diese KI programmieren und einsetzen. Wenn keine Interaktion stattfindet, passiert erst einmal nicht viel.

KI-Anwendungen wie ChatGPT haben einen Aufwacheffekt generiert, weil vermutlich viele Unternehmen und auch viele Endkonsumenten zwar schon mit KI in Berührung gekommen sind, etwa bei Face Recognition zum Entsperren des Handys, es ihnen aber nicht bewusst war. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem es jedem bewusst wird und viele Unternehmen aufwachen, sich umsehen und draufkommen, dass sie auf den Zug aufspringen müssen. 

Christina Wilfinger: Ich sehe den Hype, der erzeugt worden ist, sehr positiv – nicht nur im B2B-Bereich. Letzten Endes sind wir alle Konsumenten, auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Unternehmen. ChatGPT hat KI-Technologie sichtbar und greifbar gemacht. Ich habe Gespräche mit vielen österreichischen Führungskräften geführt, die gesagt haben, sie würden KI noch nicht nutzen. Dabei nutzen sie sie tagtäglich, nur ist ihnen das noch nicht so bewusst. Denken Sie an Face Recognition. 

Es war sehr wichtig, dass es ein breitenwirksames Thema geworden ist, weil dadurch Denkprozesse angestoßen werden. Auch bieten sich neue, eigentlich naheliegende Geschäftsfelder an. Etwa im Hinblick auf den Fachkräftemangel das Beispiel der automatisierten Rechnungslegung. Das ist vielleicht nicht so „fancy“ wie Speech-to-Text, aber ein ganz klassisches Thema, wo sich der Einsatz lohnt. Jeder Kunde legt irgendjemandem Rechnungen. Stellen Sie sich vor, das müsste alles manuell geprüft werden. Auch da kommt KI zum Einsatz. Das steckt seit über zehn Jahren in unserer Software. 

Das ist eine unglaubliche Chance für Unternehmen, weil sie nicht immer die volle Ausschöpfungsmöglichkeit personeller oder technischer Ressourcen haben. Mit KI-Werkzeugen kann unglaublich viel optimiert werden. Gleichzeitig kann durch diese Optimierung Innovation getrieben werden. Denn wir brauchen diese Innovationskraft aus Europa heraus. Einfach nur eine Technologie besser zu machen, wird uns keinen globalen Wettbewerbsvorteil bringen. Wir müssen die Technologie als Werkzeug nutzen, um uns wieder auf unsere Kernkompetenzen zu konzentrieren.

In welchen Bereichen sehen Sie das größte Potenzial für die Anwendung von KI?
Kombal: Das neueste Schlagwort ist Generative AI. Das ist ein Gamechanger, die nächste Stufe dessen, was AI kann. In der Vergangenheit wurde AI oft als Klassifizierungstool verwendet. Man spricht in diesem Zusammenhang von Narrow AI. Solche KIs konnten eine ganz bestimmte Aufgabe erfüllen, konnte aber daraus keine Anschlussfrage ableiten. Wie bei der Internetsuche. Man konnte schon immer etwas eingeben, aber man konnte dann keine Anschlussfrage stellen, um das Ergebnis zu verfeinern. Man musste einen komplett neuen Prompt schreiben. Das ist durch Generative AI möglich. Dadurch ist es möglich, die Businessprozesse besser zu verstehen. 

Ich sehe eine sehr große Chance, gerade im B2B-Bereich, darin, die existierenden Daten besser zu nutzen. Die vielen Businessdaten, die bei den Unternehmen in den verschiedenen Clouds hängen, sind ein riesiges Spektrum, wo wir als SAP eine große Rolle spielen werden. Denn wir haben das Prozess-Know-how. Es wird ein neues Segment entstehen, wie man mithilfe von Generative AI die Businessprozesse zwischen und innerhalb der Unternehmen auf die nächste Stufe bringen kann.

Frau Wilfinger, wo sehen Sie in einem Land wie Österreich die größten Chancen durch KI?
Wilfinger: Ich denke, man muss sich das Branche für Branche ansehen. Im Gesundheitsbereich ist unglaublich viel Potenzial vorhanden, auch im Bereich Language Processing und Interaktion mit Responsible AI, wo SAP einen Schwerpunkt setzt. Gerade im Produktionsumfeld sehe ich viele Optimierungsmöglichkeiten, Stichwort Fehlererkennung.

SAP hat beispielsweise im HQ in Walldorf eine Smart Factory, wo die Prozesse komplett KI-geführt sind. Wenn man sich so einen diskreten Fertigungsprozess ansieht, bekommt man als Endanwender gar nicht mit, dass im Hintergrund viele Tools miteinander interagieren und Informationen austauschen. Da spielen natürlich gewisse KI-Algorithmen und -Tools mit. 

Ich sehe auch sehr starkes Potenzial in der Verwaltung. Das gilt nicht nur für Behörden, auch in der Interaktion mit Bürgern oder bei der Energieversorgung. Alles, was kritische ­Infrastruktur betrifft, ob es nun Brücken oder Schienen sind. Es gibt un­zählige Beispiele in jedem einzelnen Industriebereich, egal welcher Größe und insbesondere im Mittelstand. Gerade dort konnte oft nicht jeder Innovationszyklus mitgemacht werden, weil Budget und Ressourcen nicht da waren. Das ist jetzt eine ­unglaubliche Chance für Mittelständler – die ja nicht nur in Österreich, sondern am globalen Markt agieren – um Transparenz in ihre Supply Chain zu bekommen oder mit Predictive-Mechanismen ganz anders in die Zukunft schauen zu können. 

Je frühzeitiger man solche Lösungen ausprobiert, desto mehr Wettbewerbsvorteile stecken drin. Das ist mein Appell an unsere Kunden: nicht abzuwarten, sondern diese Technologien zu nutzen bzw. zu konsumieren. Genau da wollen wir als SAP mit unserem Geschäftsmodell hin. Wir wollen unseren Kunden Services anbieten, die sie einfach konsumieren können, denn KI ist bereits integriert. Wir als europäisches Softwarehaus liefern die Services, in denen die KI für unsere Kunden mitdenkt und ihnen hilft, den Prozess für die Zukunft zu gestalten und nicht einfach nur etwas aus der Vergangenheit zu optimieren.

Also quasi das „Mantra“ der Digitalisierung: Nicht alte Prozesse digitalisieren, sondern neu denken?
Wilfinger: Natürlich gibt es immer gelebte Prozesse oder Systeme. Aber was man gerade zum Beispiel auch bei „RISE with SAP“ (Anm.: Full-Service-Angebot der SAP in der Cloud) sieht: Sehr viele unserer Bestandskunden denken darüber nach, in einen Greenfield-Approach zu gehen. Also nicht ein bestehendes System zu analysieren und darauf aufzubauen – auch dort kann man viel mit KI machen –, sondern die Chance zu nutzen, Prozesse neu zu denken. 

Das ist natürlich ein Change-Projekt. Aber der Wind hat sich in den vergangenen eineinhalb Jahren gedreht. Sehr viele Unternehmen, die seit zehn oder zwanzig Jahren, teilweise auch länger, SAP-Kunden sind, denken darüber nach, jetzt Dinge neu zu machen und auf Standards zu setzen. Jedes Unternehmen hat selbstverständlich Kernprozesse, die es als Wettbewerbsvorteil sieht, aber ein klassischer Einkaufs- oder Recruitingprozess zählt sicher nicht dazu. Die Technologie dafür ist da, man muss nur einen Schalter umlegen.

Wenn ich das richtig verstehe, sagen Sie also, dass KI eigentlich überall angewendet ­werden kann.
Wilfinger: Genau. Die Dinge müssen einfach umgesetzt und getan werden. Es ist schon sehr viel an Services und Tools vorhanden, man muss sie nur nutzen. Je mehr genutzt wird, desto mehr Verständnis wird erzeugt und desto mehr werden die teilweise mitschwingenden Ängste verschwinden. 

Herr Kombal, Wo steckt denn bei SAP heute­ schon überall Künstliche Intelligenz ­drinnen? Können Sie uns vielleicht ein paar ­Beispiele nennen?
Kombal: Aktuell stecken bereits plus/minus 130 KI-Szenarien in den existierenden Produkten, sehr breit gefächert. Wir verwenden in diesem Zusammenhang sehr gerne End-to-End-Prozesse wie Lead-to-Cash, Source-to-pay, Hire-to-retire oder Design-to-operate. Das sind die vier gängigen End-to-End-Prozesse, die nicht spezifisch durch ein Produkt abgedeckt werden, sondern durch mehrere Produktpaletten. Diese 130 Szenarien begleiten solche End-to-End-Prozesse. 

Wir als SAP fokussieren uns auf vollintegrierte KI-Lösungen in unseren Anwendungen, die unsere Kunden in wichtigen Entscheidungsprozessen und bei repetitiven Arbeitsabläufen unterstützen. Idealerweise ohne großen Implementierungsaufwand, weil es ja ein Software-as-a-Service-Angebot ist. Das erleichtert deutlich das Deployment und auch den Abruf der Services. 

Im Mai wurden auf unserer Kundenmesse ­Sapphire auch neue Cases für Generative AI angekündigt. Im HR-Produktumfeld zum Beispiel haben wir für SAP SuccessFactors auch in Kollaboration mit Microsoft neue Features gezeigt, um den Recrui­tingprozess zu erleichtern. Man kann sich etwa eine Stellenbeschreibung, basierend auf gewissen Voraussetzungen für den Job, vorbereiten lassen oder auch speziell auf den Lebenslauf der Bewerber zugeschnittene Fragen für den Interviewprozess.

Das führt uns in Richtung des verantwortungsbewussten Einsatzes von Künstlicher Intelligenz und auch des Vertrauens in KI. ­Gerade Personalpro­zesse sind ja sehr ­sensible Bereiche. Wie geht SAP mit dem Thema ­„Responsible AI“ um?
Kombal: Wir waren schon sehr früh an diesem Thema dran. Bereits 2018 haben wir intern begonnen, Practices festzulegen, wie man mit AI bei der Produktentwicklung umzugehen hat und worauf man achten muss. Wir hatten über die letzten Jahre in einem Ethics Advisory Panel intern, aber auch mit externen Spezialisten, Gespräche. Da geht es um ein breites Spektrum an Themen, von Data Protection über juristische Fragen bis hin zu Human Resources. 

Schon im Jahr 2018 haben wir als Vorreiter unter den europäi­schen Technologieunternehmen ein externes AI Ethics Advisory Panel etabliert. Mit der Veröffentlichung unserer „Guiding Principles for AI“ im Jahr 2019 haben wir erneut die immense Bedeutung dieses Themas betont. Darin geht es auch um Transparenz. Die Transparenz der Algorithmen im Hintergrund ist etwas, dass bei Large Language Models oft moniert wird. Warum kommt es zu diesem Vorschlag oder dieser Empfehlung? Wir ermöglichen diese Transparenz. Man kann in diesen „Maschinenraum“ hineinschauen, um das nachzuvollziehen. Was man natürlich vermeiden möchte, ist ein Bias. 

Der Recruitingprozess ist ein klassisches Beispiel dafür. Die Empfehlungen basieren heute ja oft auf vorhandenen Daten. Bei der Ausschreibung eines Jobs in einer Männerdomäne werden dann Frauen wahrscheinlich auf Basis dieser Daten benachteiligt. Da muss man eingreifen, um solche falschen Ableitungen, die biased sind, zu vermeiden. Das sind im Groben die Grundsätze von Responsible AI.

In diesem Zusammenhang wird oft von einer „AI-Blackbox“ gesprochen. Ist es bei SAP also sozusagen eine Art „Clear Box“?
Kombal: Diese Practices, die wir seit 2018 in unserer Entwicklung verankert haben, tragen dafür Sorge, dass schon im Vorhinein an diese Dinge gedacht wird und nicht erst im Nachhinein. Bevor wir ein Produkt verfügbar machen, gibt es bei uns außerdem immer ein Quality Gate, um die AI-Use-Cases einer genauen Prüfung zu unterziehen. Auch Ethics ist einer der Bestandteile dieser „Checklist“, die erfüllt werden muss. Das geht durch ein Steering-Komitee, wo jeder dieser AI-Use-Cases eingehend untersucht wird.

Herr Kombal, Sie haben vorhin Prompts ­erwähnt. Und Sie, Frau Wilfinger, haben­ vom Fachkräftemangel gesprochen. Auch­ für die Nutzung von KI brauchen die Mitarbeiter:innen neue Fähigkeiten. Welche sind das?
Wilfinger: Es gibt bald unzählige Berufsfelder und neue Job-Descriptions, die durch KI-Einsatz entstehen. Ich glaube aber nicht, dass die Antwort sein wird, nach Spezialisten zu suchen. Man sieht ja, wie sehr es in Europa und in Österreich an Fachkräften und Arbeitskräften mangelt. Ich sehe es als Notwendigkeit, die breite Masse auszubilden. Ja, man braucht die Engineers, um Technologien weiterzuentwickeln und voranzutreiben.

Was wir aber sehen – und wir sind ja im B2B-Bereich tätig – ist, dass die vorhandene Workforce unserer Kunden befähigt werden muss. Das heißt nicht, dass jeder Buchhalter zum Data Scientist werden muss. Aber es heißt, die Angst davor zu nehmen, mit diesen neuen Tools und Technologien zu arbeiten und sie im Alltag anzuwenden. 

Das wird der springende Punkt sein. Das heißt aber nicht, dass ich in meiner Abteilung fünf Personen weniger brauche. Denn im Moment würde ich eigentlich zehn brauchen, um den Status quo aufrechtzuerhalten und meine Aufträge abzuarbeiten. Die fehlenden fünf werde ich aber nicht so schnell finden. Deswegen muss ich die Tools so einsetzen, dass sie mich unterstützen, und die vorhandenen Personen muss ich so schulen, dass sie mit diesen Tools richtig gut umgehen können. 

Im Moment werden unzählige personelle Ressourcen zum Beispiel dadurch gebunden, um ganz banal Fehler zu suchen. Egal ob in einem Produktionsprozess, in der Finanz oder in einem Einkaufsprozess. Warum muss ich dafür eine wertvolle Arbeitskraft einsetzen? Das kann ein Algorithmus viel besser. Da gibt es unglaublich viel Potenzial.

Lässt sich Künstliche Intelligenz zu anderen Trends wie Smart­phones oder Cloud Computing in Relation setzen? Was wird in einigen Jahren rückblickend ­gesehen den größeren Impact gehabt haben?
Kombal: Wie es bei Innovationsthemen eben so ist, wird man in der Entwicklungskurve kurzfristig bei AI wahrscheinlich den größten Anstieg sehen. Diese Kurve wird sich dann abflachen, das ist ganz normal. Es kommt natürlich auch darauf an, von welchem Zeitraum man spricht. Aber es ist definitiv vergleichbar mit der Einführung des Smartphones oder des Internets, das ist bestimmt nicht unterzubewerten. Es wird aber in den verschiedenen Branchen unterschiedlich angenommen werden. In Handwerksberufen hat es wahrscheinlich erst einmal einen geringeren Einfluss als zum Beispiel in der Buchhaltung. (RNF)