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Hauptsache gesund ...

NEW BUSINESS - NR. 10, DEZEMBER 2021
Gesundheitsvorsorge und -beratung am Arbeitsplatz hat nicht zuletzt pandemiebedingt eine ganz neue Bedeutung erhalten. © Adobe Stock/Tex vector

In Zeiten der Pandemie hat sich das betriebliche Gesundheitsmanagement zum entscheidenden Instrument der Unternehmensführung entwickelt. Nun schlagen Experten Alarm:

Der explodierenden Nachfrage nach arbeitsmedizinischer Betreuung steht ein akuter Mangel an Personal gegebenüber. 

Die Arbeitsmedizin hat eine lange Tradition. „Schon altägyptische Wandmalereien und Hieroglyphen zeugen vom gefährlichen Alltag auf den Riesenbaustellen der Pyramiden und Paläste. Mumienfunde lassen Rückschlüsse auf Lungenerkrankungen durch das Einatmen verpesteter Luft zu“, heißt es in einer wissenschaftlichen Abhandlung von Stefan A. Bayer, Facharzt für Arbeitsmedizin und ehemaliger Präsident der österreichischen Akademie für Arbeitsmedizin. „Die historische Entwicklung der Arbeitsmedizin und die Erfahrung des Menschen, dass mit körperlicher Tätigkeit auch gesundheitliche Beschwerden einhergehen können, lässt sich anhand von Dokumenten und Bildern aber bis vor die Hochkulturen Ägyptens zurückverfolgen.“

Im Laufe der Geschichte wurde dem aufstrebenden Medizinbereich zwar immer mehr Bedeutung zugesprochen, doch „die Arbeitsmedizin befand sich von Beginn an in einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Betriebe und der Nationalökonomie einerseits und den Gesundheitsinteressen der ihnen anvertrauten Menschen“, so Bayer in seinem Resümee – ein Konflikt der sich allmählich zu entschärfen scheint.

Die Mitarbeitergesundheit beeinflusst den Erfolg von Unternehmen – nicht nur in Zeiten einer Pandemie
Corona hat allen Unternehmen die Bedeutung der Mitarbeitergesundheit deutlich vor Augen geführt. Dass dieser Faktor auch außerhalb solcher Ausnahmezeiten ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein kann, belegt eine gemeinsame Studie der Asklepios Kliniken mit der Unternehmensberatung Roland Berger. „Es genügt nicht, lediglich Fehlzeiten zu messen und den Fokus auf Unfälle und Unfallvermeidung zu legen, es geht um ein breiteres Verständnis von Gesundheit“, ist Kai Hankeln, CEO der Asklepios Kliniken, überzeugt. „Die Aufgabe muss sein, dafür zu sorgen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch gezielte gesundheitsunterstützende Maßnahmen und gesundheitsförderliche betriebliche Rahmenbedingungen dauerhaft und nachhaltig gesünder werden.“ Asklepios engagiert sich schon seit einigen Jahren vermehrt in der Primär-, Sekundär- und Tertiär­prävention der Unternehmensgesundheit und fühlt sich darin durch die vorliegende Studie bestätigt.

„Corporate-Health-Management muss endlich zur Chefsache erklärt und ganzheitlich angegangen werden“, fordert auch Oliver Rong, Senior Partner im Hamburg Office von Roland Berger, und kann überzeugende Zahlen für einen Mehrwert durch effektives betriebliches Gesundheitsmanagement vorlegen: „Die Fluktuation nimmt um 40 Prozent ab, der Umsatz pro Mitarbeiter steigt um 11 Prozent und der Aktienwert sogar um 76 Prozent. Trotz dieser Zusammenhänge und obwohl zahlreiche Veröffentlichungen zwischen 2005 und 2015 einen Return of Invest von 2:1 oder sogar 3:1 angeben, wird in deutschen Unternehmen das Potenzial zur Förderung von Gesundheit bis heute nicht ausgeschöpft, wie die Studie darlegt.“

Langfristig hohes Einsparpotenzial
Die gestiegene Zahl von Krankentagen zeigt, dass in den letzten Jahren offenbar nicht genug in betriebliche Gesundheit investiert wurde. Gab es Angebote, so wurden sie zumeist nur von maximal zwei Drittel der Belegschaft genutzt. Die größten Hürden bei der Umsetzung sind Vorrang des Tagesgeschäfts, fehlende Ressourcen, fehlendes Wissen über die Umsetzung, kein persönliches Engagement, eine zu kostspielige Umsetzung, kein Wissen über externe Unterstützung und fehlende Motivation der Belegschaft. Um diese Hindernisse zu überwinden, empfiehlt Roland Berger eine klare Nutzenkommunikation, einen gesamtunternehmerischen Ansatz sowie die Zusammenarbeit mit externen Partnern, um von Best-Practice-Lösungen zu lernen.

Vereinzelte Gesundheitsaktionen sind keine Lösung, ein modernes Corporate-Health-Management sollte ein tief in der Organisation verankertes und ganzheitliches Programm beinhalten, ergab die Studie. Weiterhin erreichen hauptsächlich individuell auf das eigene Unternehmen und die jeweilige Belegschaft angepasste Programme ihre Wirkung.

Das Einsparpotenzial durch eine Senkung der Krankheitstage ist enorm, die Wirkung zeigt sich aber erst langfristig. „Das betriebliche Gesundheitsmanagement ist ein Marathon und kein Sprint“, so Hankeln. „Erfolgreich kann ein Gesundheitskonzept nur dann sein, wenn es auf allen Organisationsebenen sowie über die Führungskultur fest in den betrieblichen Strukturen verankert wird.“

Nachfrage nach Arbeitsmedizin so hoch wie nie – Personalmangel gefährdet Arbeitnehmerschutz
Mit Ausbruch der Pandemie ist die Nachfrage nach medizinischer Expertise in heimischen Unternehmen explosionsartig gestiegen. „Zahlreiche Gesundheits­experten der IBG Innovatives Betriebliches Gesundheitsmanagement GmbH waren Mitglied in betrieblichen Krisenstäben und Arbeitsgruppen, die Präventions- und Impfkonzepte für Unternehmen entwickelten und deren Umsetzung begleiteten“, erinnert sich IBG-Geschäftsführer Gerhard Klicka. Für ihn haben die Erfahrungen der Krisenmonate Langzeitwirkung. „Es wurden Dinge möglich, die wir seit Langem einmahnen“, sagt ­Klicka. „Betriebliche Gesundheit ist Chefsache. Unsere Mediziner waren durch die zu lösenden Probleme auf Augenhöhe mit der Managementebene und wurden gehört. Sie haben wichtige und entscheidende Rollen eingenommen. Und sie haben vor Augen geführt, welche Maßnahmen wichtig sind oder wie Pandemiepläne in den Firmen umgesetzt werden sollen.“

Der hohen Nachfrage steht aktuell jedoch ein akuter Personalmangel gegenüber. Nach Schätzung von Experten der Österreichischen Akademie für Arbeitsmedizin (AAMP) gibt es aktuell rund 1.000 aktiv tätige Arbeitsmediziner in Österreich, um rund 500 zu wenig. Ohne Gegenmaßnahmen wächst diese dramatische Lücke jährlich um weitere 100 Arbeitsmediziner. „Ich kann Anfragen von Unternehmen nicht mehr nachkommen, weil ich zu wenige Leute habe“, alarmiert Klicka. „Und dies entwickelt sich in der ganzen Branche zu einem essenziellen Problem: Wir können als Dienstleister nicht mehr dem gesetzlichen Auftrag der Unternehmen im Rahmen des Arbeitnehmerschutz-Gesetzes nachkommen.“ 

Schulterschluss für breite Information 
Um Berufseinsteiger sowie erfahrene Mediziner für diese Spezialisierung zu interessieren, haben sich AUVA, Ärztekammer und die Bundesministerien für Arbeit sowie für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu einem gemeinsamen Kraftakt entschlossen: Bis Ende 2024 soll über Informationsangebote und Kommunikationsmaßnahmen in ganz Österreich die Zahl ausgebildeter Arbeitsmediziner an den Bedarf herangeführt werden. Mit der Umsetzung dieser Offensive wurde die AAMP beauftragt. Der Launch des Online-Informationsportals www.arbeitsmedizin-info.at markierte den Startpunkt der Initiative.

„Die Arbeitswelt verändert sich mit Automatisierung, Homeoffice und Digitalisierung rasant. So gewinnen die Fragen der Gesundheit und Leistungsfähigkeit ganz neue Bedeutung“, erklärt Karl Hochgatterer, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin (ÖGA). „Um sie nachhaltig zu beantworten, brauchen Unternehmen versierte Gesundheitsmanager, und das können nur ausgebildete Arbeitsmediziner sein. Sie leisten einen messbaren nachhaltigen Beitrag zum Bestand und Erfolg eines Unternehmens.“

Das bestätigt auch der Arbeitsmediziner Markus Wachtler. „Ich verstehe und erlebe Arbeitsmedizin als enorm wichtigen Beitrag für Menschen und Wirtschaft. Aus meiner Perspektive als Oberarzt in einem Krankenhaus und als niedergelassener Arzt weiß ich, dass es auch im Betrieb um solide Beratung geht. So wie die Wirtschaftswelt volatil ist, können auch die gesundheitlichen Herausforderungen je nach Branche sehr groß sein. Ich möchte beiden Partnern – Management wie Belegschaft – mit meiner Expertise und meinen Empfehlungen Gutes tun und sehe mich hier als Mittler und Berater.“

Arbeitsmedizin ist Health Management 
Die Zukunft der betrieblichen Gesundheitsvorsorge stand auch im Fokus der ÖGA-Jahrestagung. Belege für den Wert der arbeitsmedizinischen Versorgung lieferte Susanne Schunder-Tatzber, Head of Corporate Health Management bei der OMV AG und Vizepräsidentin der ÖGA. In der Praxis sei auf unterschiedliche Situationen und Bedürfnisse in den Betrieben zu reagieren. „Mental Health rückte in Zeiten der Pandemie in den Vordergrund, so litten etwa die einen unter der Doppelbelastung Homeoffice und Homeschooling, die anderen unter Isolation“, rekapitulierte sie die letzten eineinhalb Jahre. In einem internationalen Konzern ist die Installation einer komplexen arbeitsmedizinischen Struktur sinnvoll, doch auch in kleineren Betrieben sollte der Arbeitsmediziner als Health-Manager verstanden werden. Sie sind das Bindeglied zwischen dem Betrieb und seinen Mitarbeitern. 

„Die Gesundheit der Beschäftigten ist von wirtschaftlicher Relevanz für jedes Unternehmen“, analysierte Roswitha Hosemann, Fachärztin für Arbeitsmedizin in der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt AUVA und Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates der ÖGA. Sie verwies dazu auf Zahlen zur Bestätigung. 

Vorsorge rechnet sich 
Bei den Arbeitsunfällen zeigt sich in den letzten zehn Jahren ein erfreulicher Trend nach unten. Die anerkannten Berufskrankheiten haben sich von rund 1.500 auf 1.150 pro Jahr verringert, also rund ein Viertel. Investitionen in die Gesundheit der Mitarbeiter kommen auch den Betrieben zugute. Dies schlägt sich nicht zuletzt in Form von mehr Motivation und geringeren Fehlzeiten nieder. Studien belegen einen Mindestnutzen von 1 zu 5 pro Euro, der für die Gesundheitsförderung eingesetzt wird. „Gesundheitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung entlasten zusätzlich das Gesundheitssystem“, so Hosemann. Arbeitswelten ändern sich rasant, mit neuen Gefährdungen und Belastungen – Stichworte Digitalisierung oder mobiles Arbeiten. Dies erfordert rasch Maßnahmen, um möglichen gesundheitsschädlichen Auswirkungen nachhaltig entgegensteuern zu können. 

Wenig Image trotz bester Bilanz
Nach wie vor gibt es in der Arbeitsmedizin Potenziale zu aktivieren. Da wäre zum Beispiel ihr Image, denn es gibt zu wenig Nachwuchs bei gleichzeitigem Wachsen der Wirtschaft. Gesundheitspolitisch wird über Krankenhäuser und Gesundheitszentren diskutiert. Die Arbeitsmedizin müsste sichtbarer gemacht werden, denn sie wirkt als Ankerpunkt noch vor der kurativen Grundversorgung. „Viele Menschen gehen erst zum Arzt, wenn sie ein Problem haben. Prävention kann dem vorbeugen. Die Arbeitsmedizin erreicht hier auch diejenigen, die sich sonst zu wenig um ihre Gesundheit kümmern“, stellte Artur Wechselberger, Präsident der Ärztekammer für Tirol und Leiter des Referats Arbeitsmedizin der Österreichischen Ärztekammer, fest. „Solche Qualitäten und deren gesamtgesellschaftliche Wirkung müssen ins Blickfeld gerückt werden.“ All das wäre nicht mehr möglich, wenn dem Erfolgsrezept Arbeitsmedizin das Personal fehle.

Ausbildung und Forschung als Schlüssel
Oft wechseln Mediziner aus pragmatischen Gründen in die Vorsorge und erkennen erst dann, wie spannend und vielfältig dieser Bereich ist. „In der Ausbildung haben sie dazu wenig Möglichkeiten, die Arbeitsmedizin ist in Österreich – außer in Wien – kein großes Thema im Studium. Das muss sich dringend ändern. Bereits die jungen Studierenden müssen die Prävention in ihrer Bedeutung erkennen können“, forderte Richard Crevenna von der Medizinischen Universität Wien. Er leitet die Universitätsklinik für Physikalische Medizin, Rehabilitation und Arbeitsmedizin, an der die Prävention namhaft vertreten ist. Sein Institut befasst sich zudem mit der Forschung zu arbeitsbezogenen Themen wie Ergonomie oder Long Covid. 

Aus deutscher Perspektive zeichnet Thomas Kraus ein anderes Bild zu arbeitsmedizinischer Lehre und Forschung: „An unserer Hochschule haben wir derzeit 40 wissenschaftliche Mitarbeiter in interdisziplinären Teams und unterschiedlichen Spezialgebieten“, schilderte der Leiter des Institutes für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin an der Uniklinik RWTH Aachen. Die Forschung werde weitgehend durch die Einwerbung von Drittmitteln ermöglicht, vor allem aus Berufsgenossenschaften und der Industrie. Die Ergebnisse nutzen dem Arbeitnehmerschutz wie der Volkswirtschaft. „In der studentischen Ausbildung ist es essenziell, die Schnittstellen zwischen kurativer und präventiver Medizin entlang des gesamten Studiums aufzuzeigen“, so Kraus, nur dadurch könne das Verständnis für die Notwendigkeit der Vorsorge geschaffen werden.

Berufsbild im Setting „Unternehmen“
ÖGA- Präsident Karl Hochgatterer rief zusammenfassend die Definition des Berufsbilds der Arbeitsmediziner in Erinnerung: „Die arbeitsmedizinische Tätigkeit findet immer im Setting ‚Unternehmen‘ statt. Im Zentrum steht der Arbeitnehmerschutz durch präventivmedizinische Aufgaben. Dazu kommt das Management der beruflichen Wiedereingliederung“. Damit unterstützen die Arbeitsmediziner die Arbeitgeber bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten: Beim Gesundheitsschutz, bei der auf die Arbeitsbedingungen bezogenen Gesundheitsförderung und bei der menschengerechten Arbeitsgestaltung. „Dies gilt es nicht nur zu erhalten, sondern auch zu fördern. Der aktuelle Mangel dünnt das System aus und führt zu einer Überlastung der aktiven Arbeitsmediziner.“ (BO)


BUCH-TIPP
Basiswissen Arbeitsmedizin – Handbuch für die Arbeitsmedizin-Ausbildung
Die Österreichische Akademie für Arbeitsmedizin und Prävention (AAMP) hat mit dankenswerter Unterstützung einer Reihe von Experten aus Medizin, Recht, Psychologie und Management ein Buch herausgegeben, das das grundlegende arbeitsmedizinische Wissen sowie die in Österreich geltenden relevanten rechtlichen Regelungen in kompakter und übersichtlicher Form zusammenfasst. Der Kapitelaufbau orientiert sich am arbeitsmedizinischen Handlungsprozess von der Erhebung über die Bewertung von potenziell gesundheitsgefährdenden Einflussfaktoren über die entsprechenden Untersuchungen und Erhebungs­methoden bis hin zu geeigneten Präventionsmaßnahmen – und ermöglicht ­damit den Lesenden eine strukturierte Vorgangsweise im Umgang mit arbeits­bedingten Einflüssen auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit.

Entstanden ist die vorliegende Publikation aus dem Wunsch der Teilnehmer der Ausbildungslehrgänge der AAMP nach einem lehrgangsbegleitenden Buch, das eine zielorientierte Vorbereitung auf die Abschlussprüfung bietet. Aufgrund seiner Konzeption ist das Buch aber auch eine kompakte Informationsquelle und ein handliches Nachschlagewerk für die arbeitsmedizinische Praxis und erleichtert damit den Einstieg in den Beruf Arbeitsmediziner. Das „Handbuch für die Arbeitsmedizin-Ausbildung“ ist im Facultas Verlag erschienen und erhältlich.

www.aamp.at
www.facultas.at